Ex droht mit Nacktfotos: OLG Hamm entscheidet über Verfahrenskostenhilfe zur Durchsetzung der sexuellen Selbstbestimmung

Dass man gewisse Risiken eingeht, wenn man jemandem seine Nacktbilder schickt, liegt auf der Hand - aber immerhin hat man rechtliche Möglichkeiten, sich gegen die Veröffentlichung im Internet zu wehren. Obwohl das nach einer Selbstverständlichkeit klingt, sah das Amtsgericht Bielefeld (AG) das zunächst anders. Doch dann war das Oberlandesgericht Hamm (OLG) am Zug.

Dass man gewisse Risiken eingeht, wenn man jemandem seine Nacktbilder schickt, liegt auf der Hand - aber immerhin hat man rechtliche Möglichkeiten, sich gegen die Veröffentlichung im Internet zu wehren. Obwohl das nach einer Selbstverständlichkeit klingt, sah das Amtsgericht Bielefeld (AG) das zunächst anders. Doch dann war das Oberlandesgericht Hamm (OLG) am Zug.

Eine Frau wollte Verfahrenskostenhilfe (VKH) - so nennt man die Prozesskostenhilfe vor Familiengerichten - für einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz gegen den Exfreund. Die Familienkammer des AG sollte ihm untersagen, die Bilder wie angedroht zu veröffentlichen, und dem Verbot mit Zwangsgeld bzw. Zwangshaft bei Zuwiderhandlung Nachdruck verleihen. Das AG gewährte der Frau aber keine VKH. Es meinte, dass die angedrohte Handlung keine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung darstelle.

Das OLG hob diese Entscheidung auf und machte deutlich: An Bildern, die zwar "befugt" entstanden und überlassen worden sind, weil die abgebildete Person sich selbst fotografiert und das Foto mit dem anderen geteilt hat, bleiben doch gewisse Rechte bei der abgebildeten Person - insbesondere bei einem intimen Motiv. Eine Strafbarkeit, Bilder mit sexuellen Darstellungen gegen den ausdrücklichen Widerspruch im Internet zu veröffentlichen, sei gar nicht abwegig. Der zivilrechtliche Unterlassungsanspruch gehe sogar über die Straftatbestände hinaus. Deshalb müsse die Frau die rechtliche Möglichkeit haben, das im Vorfeld mit gerichtlicher Hilfe zu verhindern. Denn mittellosen Frauen dürfe nicht der Zugang zum Rechtssystem verwehrt werden. Deshalb gewährte das OLG die VKH und gab die Akte zurück zum AG.

Hinweis: Im VKH-Prüfverfahren dürfen die Richter nicht allzu streng bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten sein, weil mittellose Rechtssuchende sonst benachteiligt werden könnten. Wenn das Gericht also für möglich hält, dass Ansprüche bestehen, muss es das nicht erst komplett "durchprüfen", sondern erstmal VKH bewilligen.


Quelle: OLG Hamm, Beschl. v. 13.07.2023 - 1 WF 93/23
zum Thema: Familienrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Fortsetzung nicht zumutbar: Veröffentlichtes Video mit "Impfung macht frei" führt zur Kündigung eines Lehrers

Bei der Verharmlosung des Holocausts kennen die meisten Arbeitgeber kein Pardon. Vor allem öffentliche Arbeitgeber sehen sich in der Pflicht, Umtriebe ihrer Beschäftigten dahingehend im Auge zu behalten - und im Ernstfall empflindlich zu ahnden. Auch der Lehrer dieses Falls wird gewusst haben, welche Konsequenzen ihm drohen. Dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) Verfahrensfehler bei der Kündigung festgestellt hat, änderte final nichts an der Tatsache, dass dem Land Berlin die Weiterführung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar war.

Bei der Verharmlosung des Holocausts kennen die meisten Arbeitgeber kein Pardon. Vor allem öffentliche Arbeitgeber sehen sich in der Pflicht, Umtriebe ihrer Beschäftigten dahingehend im Auge zu behalten - und im Ernstfall empflindlich zu ahnden. Auch der Lehrer dieses Falls wird gewusst haben, welche Konsequenzen ihm drohen. Dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) Verfahrensfehler bei der Kündigung festgestellt hat, änderte final nichts an der Tatsache, dass dem Land Berlin die Weiterführung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar war.

Ein beim Land Berlin angestellter Lehrer war mit der Corona-Politik der Bundesregierung im Jahr 2021 nicht einverstanden und veröffentlichte auf YouTube ein Video, das mit der Darstellung des Tors eines Konzentrationslagers begann. Der Originalschriftzug des Tors "Arbeit macht frei" war durch den Text "Impfung macht frei" ersetzt. Das Land kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis fristlos und hilfsweise fristgemäß. Es war der Auffassung, der Lehrer setze in dem Video das staatliche Werben um die Impfbereitschaft in der Pandemie mit der Unrechtsherrschaft und dem System der Konzentrationslager gleich. Das komme einer Verharmlosung der Unrechtstaten der Nationalsozialisten gleich und missachte die Opfer. Da das Land Berlin eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Lehrer nicht mehr erkennen konnte, beantragte es zudem für den Fall der Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung nach Maßgabe der §§ 9 und 10 Kündigungsschutzgesetz aufzulösen. Der Lehrer sah dagegen keinen Zusammenhang mit seinem Arbeitsverhältnis und klagte gegen die Kündigung.

Auch das LAG meinte, dass die Kündigung unwirksam war. Denn das Land Berlin hatte einen schwerwiegenden Verfahrensfehler gemacht. Es hatte dem Personalrat nur einen Screenshot des Eingangsbilds des Videos als Kündigungsgrund genannt - daher konnte es sich im Verfahren auch nur darauf berufen. Somit war eine Überschreitung des Grundrechts auf Meinungsäußerung nicht eindeutig festzustellen. Trotzdem war dem Land Berlin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen der Äußerungen im Video nicht zuzumuten. Daher wurde das Arbeitsverhältnis dennoch zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 31.03.2022 gegen Zahlung einer Abfindung von 72.000 EUR aufgelöst.

Hinweis: Jegliche Verharmlosung von Taten der Nazidiktatur können bei Beschäftigten im öffentlichen Dienst zur Beendigung des Arbeits- oder Dienstverhältnisses führen. Das ist seit langem bekannt - und alle Beschäftigten, ob verbeamtet oder nicht, sollten sich daran halten.


Quelle: LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 15.06.2023 - 10 Sa 1143/22
zum Thema: Arbeitsrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Nachlassforderung trotz Pflichtteilsverzichts: Erben müssen Unterhalt der geschiedenen Witwe zahlen

Dass Erben einer geschiedenen Witwe weiterhin Unterhalt zahlen müssen, regelt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Die Anwendbarkeit dieser Regelung war beim Oberlandesgericht Celle (OLG) im Zusammenhang mit einem Ehevertrag zu prüfen. In dem Ehevertrag hatten nämlich die Ehefrau und der - nun verstorbene - Ehemann nicht nur den Unterhaltsanspruch recht eigenwillig geregelt, sondern auch gegenseitig auf Pflichtteilsansprüche verzichtet.

Dass Erben einer geschiedenen Witwe weiterhin Unterhalt zahlen müssen, regelt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Die Anwendbarkeit dieser Regelung war beim Oberlandesgericht Celle (OLG) im Zusammenhang mit einem Ehevertrag zu prüfen. In dem Ehevertrag hatten nämlich die Ehefrau und der - nun verstorbene - Ehemann nicht nur den Unterhaltsanspruch recht eigenwillig geregelt, sondern auch gegenseitig auf Pflichtteilsansprüche verzichtet.

Für die geschiedene Ehefrau ging es nun im Streit mit den Erben - ihren Stiefkindern - um knapp 600.000 EUR. Zu prüfen war zunächst, ob die vertragliche Unterhaltsregelung nur die gesetzlichen Ansprüche konkretisierte oder ob es sich um eine sogenannte selbständige Unterhaltsvereinbarung, also rein vertragliche Ansprüche, handelte. Denn § 1586b BGB findet nur auf "gesetzliche" und "das Gesetz konkretisierende" Unterhaltsansprüche Anwendung.

Das OLG legte die vom Gesetz abweichende Individualvereinbarung als "selbständig" aus. Daher war im nächsten Schritt zu prüfen, ob diese nach dem mutmaßlichen Willen der Vertragsbeteiligten auch über den Tod des Verpflichteten hinaus gelten sollte. Das bejahte das Gericht und legte dazu die Gesamtvereinbarung und ihren Versorgungscharakter für die Frau aus. Für eine lebenslange Unterhaltsrente der Klägerin - über den Tod des Manns hinaus - spreche auch, dass die Ehegatten eine Befristung der Unterhaltsverpflichtung bis zu dessen Tod hätten aufnehmen können, dies aber unterlassen haben. Die Parteien des Ehevertrags gingen wegen der sehr guten Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Manns ersichtlich von einer unbeschränkten Leistungsfähigkeit des Erblassers bis zu seinem Tod und im Hinblick auf den zu erwartenden hohen Nachlass auch über seinen Tod hinaus aus.

Das Argument des Landgerichts, durch den Pflichtteilsverzicht hätten die Parteien zum Ausdruck gebracht, dass das Erbe nicht mit Unterhaltsansprüchen belastet werden solle, trug das OLG nicht mit. Der Pflichtteilsverzicht der Klägerin sei gerade bei einem lebenslangen Anspruch auf Unterhalt für den Fall sinnvoll gewesen, dass der Mann noch vor der Scheidung gestorben wäre. Im Ergebnis hafteten die Erben also trotz des nicht anwendbaren § 1586b BGB für den Unterhalt.

Hinweis: Wer seine Erben nicht mit Unterhaltsansprüchen nach seinem Tod belasten will, muss mit dem Unterhaltsberechtigten eine explizite vertragliche Lösung finden, die ihn absichert, zum Beispiel eine Lebensversicherung.


Quelle: OLG Celle, Beschl. v. 20.03.2023 - 6 U 36/22
zum Thema: Familienrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Trotz DSGVO-Verstoßes: Kündigung wegen Arbeitszeitbetrugs auch nach widerrechtlicher Datenauswertung möglich

Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gibt unter anderem vor, wann eine Videoüberwachung von wem wie abzulaufen hat, und vor allem, wie lange erhobene Daten gespeichert und entsprechend verwertet werden dürfen. Dass aber auch eine Videoüberwachung, die gegen datenschutzrechtliche Grundsätze verstößt, zu einer Kündigung führen kann, zeigt dieser Fall, der bis vor das Bundesarbeitsgericht (BAG) ging.

Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gibt unter anderem vor, wann eine Videoüberwachung von wem wie abzulaufen hat, und vor allem, wie lange erhobene Daten gespeichert und entsprechend verwertet werden dürfen. Dass aber auch eine Videoüberwachung, die gegen datenschutzrechtliche Grundsätze verstößt, zu einer Kündigung führen kann, zeigt dieser Fall, der bis vor das Bundesarbeitsgericht (BAG) ging.

Ein Arbeitnehmer war in einer Gießerei beschäftigt, in der es eine Videoüberwachung gab, auf die auch durch entsprechende Schilder hingewiesen wurde. Der Arbeitnehmer betrat an einem Tag das Betriebsgelände - offensichtlich in der Absicht, diesen Tag bezahlt zu bekommen. Auf einen anonymen Hinweis zu angeblich regelmäßigem Arbeitszeitbetrug hin sah sich der Arbeitgeber die Aufzeichnungen an und musste feststellen, dass der Arbeitnehmer noch vor Schichtbeginn das Werksgelände wieder verlassen hatte. Das hielt er für einen Arbeitszeitbetrug und kündigte dem Mann. Der Arbeitnehmer legte dagegen eine Kündigungsschutzklage ein und meinte, dass er an dem Tag gearbeitet habe. Zudem unterlägen die Videos aus der Videoüberwachung einem Beweisverwertungsverbot und könnten in einem Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden.

Damit bekam der Gekündigte in den Vorinstanzen noch Recht. Vor dem BAG war damit aber Schluss. In einem Kündigungsschutzprozess bestehe grundsätzlich kein Verwertungsverbot für solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Dies gelte auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben der DSGVO stehe. Das BAG verwies die Angelegenheit daher an die Vorinstanz - das zuständige Landesarbeitsgericht Niedersachsen (LAG) - zurück.

Hinweis: Nach Auffassung des vorinstanzlichen LAG hatte es den Grundsätzen der Datenminimierung und Speicherbegrenzung nach Art. 5 DSGVO eklatant widersprochen, dass die herangezogenen Videoaufzeichnungen zum Zeitpunkt der Auswertung teilweise bereits ein Jahr lang zurückgelegen hätten. Laut Mitteilung des BAG sei es aber möglich, dass datenschutzrechtliche Abweichungen gegen Löschpflichten bei einer offenen Videoüberwachung und bei einem vorsätzlich vertragswidrigen Verhalten nicht zugunsten eines Verwertungsverbots entscheiden.


Quelle: BAG, Urt. v. 29.06.2023 - 2 AZR 296/22
zum Thema: Arbeitsrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Unternehmerisches Risiko: Arbeitgeber kann im Kündigungsfall keine Vermittlungsprovisionen auf Arbeitnehmer abwälzen

Häufig werden Arbeitnehmer erst durch einen Personalvermittler gefunden. Doch muss der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber die gezahlte Provision für die Vermittlung ersetzen, wenn er kurz nach Abschluss des Arbeitsvertrags kündigt? Die Antwort auf diese Frage kann das Bundesarbeitsgericht (BAG) geben.

Häufig werden Arbeitnehmer erst durch einen Personalvermittler gefunden. Doch muss der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber die gezahlte Provision für die Vermittlung ersetzen, wenn er kurz nach Abschluss des Arbeitsvertrags kündigt? Die Antwort auf diese Frage kann das Bundesarbeitsgericht (BAG) geben.

Über eine Personalvermittlung fand ein Arbeitnehmer einen neuen Arbeitgeber. Dieser zahlte an den von ihm beauftragten Personaldienstleister 4.500 EUR Provision, der nach erfolgreich absolvierter Probezeit des neuen Mitarbeiters weitere 2.230 EUR erhalten sollte. Im Arbeitsvertrag zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber war der Arbeitnehmer verpflichtet worden, die gezahlten Provisionen zu erstatten, wenn das Arbeitsverhältnis nicht mindestens ein Dreivierteljahr bestehen sollte. Dennoch kündigte der Arbeitnehmer nach vier Monaten das Arbeitsverhältnis fristgerecht. Daraufhin behielt der Arbeitgeber 800 EUR netto von der letzten Vergütung ein. Dagegen zog der Arbeitnehmer vor das Arbeitsgericht. Im Zuge der Widerklage verlangte der Arbeitgeber weitere 3.700 EUR.

Vor dem BAG bekam der Arbeitnehmer Recht. Eine arbeitsvertragliche Regelung, nach der der Arbeitnehmer verpflichtet ist, gezahlte Vermittlungsprovisionen zu erstatten, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis vor Ablauf einer bestimmten Frist beendet, war unwirksam. Das ergibt sich aus § 307 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch. Das unternehmerische Risiko habe nämlich grundsätzlich der Arbeitgeber zu tragen - auch für den Fall, dass sich Aufwendungen für die Personalbeschaffung nicht "lohnen", weil der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis in rechtlich zulässiger Weise beendet. Es besteht deshalb kein rechtmäßiges Interesse des Arbeitgebers, solche Kosten auf den Arbeitnehmer abzuwälzen.

Hinweis: Für die Vermittlung eines Arbeitnehmers muss grundsätzlich nur der Arbeitgeber zahlen, wenn er das mit einem Personalvermittler zuvor vereinbart hat. Kündigt der betreffende Arbeitnehmer kurze Zeit später, hat der Arbeitgeber schlichtweg unternehmerisches Pech gehabt.


Quelle: BAG, Urt. v. 20.06.2023 - 1 AZR 265/22
zum Thema: Arbeitsrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Verfolgung vereitelt: Irrtümliche Angaben zum Fahrer berechtigen zur Fahrtenbuchauflage

Immer wieder versuchen Fahrzeughalter nach Verkehrsverstößen, die Ermittlung des verursachenden Fahrers zu vereiteln. Ein bei den Behörden beliebtes Instrument, ahnungsloses Schulterzucken auf Halterseite künftig zu vermeiden, ist die Auflage zum Führen eines Fahrtenbuchs. Und weil dieses Instrument bei den Fahrzeughaltern auf wenig Gegenliebe stößt, müssen Gerichte wie das Oberverwaltungsgericht Saarlouis (OVG) immer wieder bewerten, ob es behördenseitig (aus-)gespielt werden darf oder eben nicht.

Immer wieder versuchen Fahrzeughalter nach Verkehrsverstößen, die Ermittlung des verursachenden Fahrers zu vereiteln. Ein bei den Behörden beliebtes Instrument, ahnungsloses Schulterzucken auf Halterseite künftig zu vermeiden, ist die Auflage zum Führen eines Fahrtenbuchs. Und weil dieses Instrument bei den Fahrzeughaltern auf wenig Gegenliebe stößt, müssen Gerichte wie das Oberverwaltungsgericht Saarlouis (OVG) immer wieder bewerten, ob es behördenseitig (aus-)gespielt werden darf oder eben nicht.

Ein Autofahrer überschritt mit einem Firmenfahrzeug die zulässige Geschwindigkeit außerorts um 64 km/h. Ein Mitarbeiter der Halterin füllte daraufhin den zugesandten Anhörungsbogen aus und benannte sich selbst als Fahrer. Auch nach einem Fotoabgleich mit dem Einwohnermeldeamt wurde die Identität bestätigt. Auch als der Mitarbeiter angehört wurde, räumte dieser die Tat ein. Eine Woche später jedoch trug sein Anwalt vor, dass der Mitarbeiter doch nicht der Fahrer gewesen sei. Dennoch erging der Bußgeldbescheid, woraufhin Einspruch eingelegt wurde. Der Betroffene trug vor, gedacht zu haben, dass es sich um einen anderen Verstoß gehandelt habe. Schließlich sei er mit dem Fahrzeug ebenfalls geblitzt worden, so dass er fälschlicherweise gedacht habe, dass die Anhörung sich auf eben diese Tat beziehe. Erst beim genauen Hinsehen sei ihm aber aufgefallen, dass tatsächlich sein - ihm sehr ähnlich sehender - Freund am Steuer gesessen habe. Vor Gericht konnte die Identität nicht geklärt werden, so dass das Verfahren eingestellt wurde und eine Fahrtenbuchauflage erging. Dagegen legte die Halterin Widerspruch ein.

Das OVG entschied jedoch, dass die Fahrtenbuchauflage durchaus rechtmäßig ergangen sei. Die Halterin habe zwar zunächst mitgewirkt, indem sie den Bogen an ihren Mitarbeiter weitergab. Dieser habe aber durch falsche Angaben die Verfolgung vereitelt. Sollte die Halterin selbst den Bogen ausgefüllt haben, spreche alles dafür, dass das beigefügte Foto und die Tatsache, dass das Fahrzeug normalerweise von einer anderen Person gefahren wird, nicht geprüft wurden. Daher sei die Auflage angemessen. Die Halterin des Dienstfahrzeugs hätte diese Unsicherheit vermeiden können, wenn sie Fahrtenbücher geführt hätte.

Hinweis: Der Zweck einer Fahrtenbuchauflage ist es, Kraftfahrer zu erfassen, die Verkehrsverstöße begehen, damit sie nicht durch ihr weiteres verkehrswidriges Verhalten eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellen. Die Anordnung richtet sich an den Fahrzeughalter, weil dieser die Verfügungsbefugnis und die Möglichkeit der Kontrolle über sein Fahrzeug besitzt. Gefährdet er die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs dadurch, dass er unter Vernachlässigung seiner Aufsichtsmöglichkeiten nichts dartun kann oder will, darf er durch das Führen eines Fahrtenbuchs zu einer nachprüfbaren Überwachung der Fahrzeugbenutzung angehalten werden.


Quelle: OVG Saarlouis, Beschl. v. 07.06.2023 - 1 B 51/23
zum Thema: Verkehrsrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Warnblinkerpflicht am Stauende? Verpflichtung nur bei Gefährdungslage - nicht bei Behinderung des nachfolgenden Verkehrs

Auffahrunfälle am Ende eines Staus gehören zu den traurigen, da oft tragisch endenden, Klassikern im Verkehrsrecht. Daher ist jeder Führer eines Kfz gut beraten, sich und andere durch Aufmerksamkeit und Warnung zu schützen, wenn er sich selbst einem Stau nähert - am naheliegendsten mithilfe von Warnblinkern. Wie es sich aber mit der Pflicht, die Warnblinkanlage zu aktivieren, verhält, wurde im Folgenden vom Landgericht Hagen (LG) thematisiert und geklärt.

Auffahrunfälle am Ende eines Staus gehören zu den traurigen, da oft tragisch endenden, Klassikern im Verkehrsrecht. Daher ist jeder Führer eines Kfz gut beraten, sich und andere durch Aufmerksamkeit und Warnung zu schützen, wenn er sich selbst einem Stau nähert - am naheliegendsten mithilfe von Warnblinkern. Wie es sich aber mit der Pflicht, die Warnblinkanlage zu aktivieren, verhält, wurde im Folgenden vom Landgericht Hagen (LG) thematisiert und geklärt.

Auf einer dreispurigen Autobahn staute sich der Verkehr auf der rechten Fahrbahn, auf der das Tempolimit von 100 km/h galt. Ein Lkw fuhr auf das Stauende zu und bremste von 62 auf 11 km/h ab, ohne dabei den Warnblinker einzuschalten. Ein hinter ihm fahrender Autofahrer erkannte die Situation nicht, fuhr mit 50 km/h auf den Lkw auf und wurde dabei schwer verletzt. Die Kranken- und Pflegeversicherung forderte von der Versicherung des Lkw Schadensersatz für geleistete Behandlungskosten - sie war der Ansicht, dass der Berufskraftfahrer die Pflicht gehabt hätte, die Warnblinkanlage einzuschalten. Da er genau das unterlassen habe, sei der Unfall von ihm verschuldet worden.

Das LG wies die Klage ab. Denn es gibt keine generelle Pflicht, an einem Stauende die Warnblinker anzustellen. Eine solche Verpflichtung bestehe nur, wenn eine besondere Gefahrenlage erkennbar sei. In diesem Fall war genau das aber nicht der Fall. Der Stau bildete sich nämlich nur auf der rechten Spur, was häufiger vorkommt, da langsame Lkws oder Auf- und Abfahrten den Verkehrsfluss beeinträchtigen können. Zudem war ein Tempolimit von 100 km/h angeordnet, und der Lkw-Fahrer habe die Geschwindigkeit moderat reduziert, als er den Stau wahrnahm. Wenn der Hintermann dennoch mit 50 km/h auffahre, sei davon auszugehen, dass er sich grob verkehrswidrig verhalten habe, indem er den vorausfahrenden Verkehr nicht ausreichend im Blick behielt. In einer solchen Situation sei es fraglich, ob das Einschalten der Warnblinker den Unfall überhaupt hätte verhindern können.

Hinweis: Eine Verpflichtung, den Warnblinker einzuschalten, besteht nur dann, wenn sich aufgrund des Staus eine Gefährdungslage für den nachfolgenden Verkehr ergibt. Hierfür kommt es auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Gefährlichkeit der Situation und deren Erkennbarkeit für den nachfolgenden Verkehr an. Für die Annäherung an einen Stau auf der Autobahn gilt gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 Straßenverkehrs-Ordnung, dass der Warnblinker nur dann eingeschaltet werden darf, wenn eine Gefährdung anderer nicht auszuschließen ist. Eine Behinderung reicht nicht.


Quelle: LG Hagen, Urt. v. 31.05.2023 - 1 O 44/22
zum Thema: Verkehrsrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Billigkeitsprüfung bei Versorgungsanrechten: Wer sein Anrecht aus privater Altersversorgung verschweigt, bekommt vom anderen auch nichts

Bei einer Ehescheidung werden alle Altersversorgungen mit dem jeweiligen Ehezeitanteil hälftig geteilt. Um zu wissen, welche Versorgungsträger wegen eines solchen Auskunftsersuchens angeschrieben werden müssen, füllen die Scheidungswilligen für das Gericht ein Formular (V10) aus, in dem sie jeweils ihre Versorgungsträger angeben. Der folgende Fall des Brandenburgischen Oberlandesgerichts (OLG) zeigt auf, welche betrügerischen Möglichkeiten des "Vergessens" von Angaben es gibt, um sich entsprechende Vorteile zu verschaffen.

Bei einer Ehescheidung werden alle Altersversorgungen mit dem jeweiligen Ehezeitanteil hälftig geteilt. Um zu wissen, welche Versorgungsträger wegen eines solchen Auskunftsersuchens angeschrieben werden müssen, füllen die Scheidungswilligen für das Gericht ein Formular (V10) aus, in dem sie jeweils ihre Versorgungsträger angeben. Der folgende Fall des Brandenburgischen Oberlandesgerichts (OLG) zeigt auf, welche betrügerischen Möglichkeiten des "Vergessens" von Angaben es gibt, um sich entsprechende Vorteile zu verschaffen.

Eine Frau trieb es besonders arg: Erst verschwieg sie ein Anrecht im Formular, dann löste sie einen Vertrag aus einer privaten Altersversorgung auf (was nur deshalb möglich war, weil der Versorgungsträger keine Post vom Familiengericht erhalten hatte) und gab die etwa 15.000 EUR aus. Schließlich beschwerte sie sich auch noch darüber, dass sie von der Betriebsrente des Manns noch nichts bekommen habe, weil der Mann noch nicht lange genug bei diesem Arbeitgeber gearbeitet hatte. Sie würde im Rentenalter hiervon nochmal einen "schuldrechtlichen" Ausgleich zugesprochen bekommen, weil man dann erst errechnen kann, wie hoch der Ehezeitanteil war.

In dem OLG-Verfahren fiel dann aber die Sache mit dem verschwiegenen und aufgelösten Anrecht auf - das OLG traf eine sogenannte Billigkeitsentscheidung nach § 27 Versorgungsausgleichsgesetz. Eine grobe Unbilligkeit liegt vor, wenn eine rein schematische Durchführung des Versorgungsausgleichs unter den besonderen Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls dem Grundgedanken der gesetzlichen Halbteilung in unerträglicher Weise widerspricht. Weil die Frau ihren Altersvorsorgevertrag verschwiegen und aufgelöst hatte, wurde ihr im Gegenzug die Teilhabe an der Betriebsrente des Manns im Alter endgültig verwehrt.

Hinweis: Diese Rechtsprechung ist nicht ohne weiteres auf den Fall übertragbar, in dem jemand nach Trennung, aber vor dem Scheidungsverfahren ein privates Altersvorsorgevermögen auflöst und ausgibt. Kann er nachweisen, dass er das Geld für neue Möbel, Anwaltskosten oder ähnlichen trennungsbedingten Mehrbedarf benötigte, bekommt der andere Ehegatte keinen Ausgleich und keine "Billigkeitsentscheidung".
 
 


Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 30.06.2023 - 9 UF 166/22
zum Thema: Familienrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Existenzminimum hat Vorrang: Unterhaltspflichtiger Vater von drei Kindern darf nicht studieren

Der Mindestunterhalt für Kinder ist dem Gesetzgeber und den Gerichten heilig. Wer den nicht zahlen kann, braucht eine sehr gute Begründung. Die meinte ein Vater zu haben, denn er studierte und konnte deshalb den Mindestunterhalt für drei Kinder nicht aufbringen. Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) musste seinen Bildungshunger mit seiner Unterhaltspflicht abwägen.

Der Mindestunterhalt für Kinder ist dem Gesetzgeber und den Gerichten heilig. Wer den nicht zahlen kann, braucht eine sehr gute Begründung. Die meinte ein Vater zu haben, denn er studierte und konnte deshalb den Mindestunterhalt für drei Kinder nicht aufbringen. Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) musste seinen Bildungshunger mit seiner Unterhaltspflicht abwägen.

Zwei Ausbildungen hatte der Mann nach dem Abitur bereits absolviert: bei der Bundeswehr einen Abschluss als Kaufmännischer Assistent für Fremdsprachen und in der öffentlichen Verwaltung einen Abschluss als Verwaltungsfachangestellter. Das berufsbegleitende Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Recht im Studiengang Öffentliche Verwaltung sollte sechs Semester dauern, zu dem Abschluss Bachelor of Laws führen und für den gehobenen Verwaltungsdienst qualifizieren. Um das zu schaffen, arbeitete er während der Semester nur Teilzeit 20 Wochenstunden, während der Semesterferien Vollzeit und konnte damit seinen eigenen Lebensunterhalt sichern - nicht aber den der drei Kinder. Er meinte, das begonnene Bachelorstudium sei als eine Erstausbildung zu bewerten, weil der Bildungsgang "Abitur, Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten, Studium" als eine einheitliche mehrstufige, zeitlich zusammenhängende Ausbildung zu sehen sei.

So wird es zwar in der Rechtsprechung gesehen, wenn es um den Unterhalt der Studenten gegen ihre Eltern geht, nicht aber, wenn der Student selbst Unterhaltspflichten zu erfüllen hat. Das OLG verurteilte den Mann daher erwartungsgemäß zum Mindestunterhalt. Auf sein tatsächliches Einkommen könne er sich nicht zurückziehen, da ihn gegenüber den minderjährigen Kindern eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit trifft. Seine Leistungsfähigkeit werde nicht nur durch tatsächlich vorhandenes Einkommen, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine Erwerbsmöglichkeiten bestimmt. Sein Interesse an einer Aus- oder Weiterbildung sei nachrangig, wenn er bereits über eine Berufsausbildung verfüge, die ihm durch Erwerbsmöglichkeit in dem erlernten Beruf eine ausreichende Lebensgrundlage biete. Das Interesse des Vaters, zugunsten des Studiums seine Erwerbstätigkeit so weit zu reduzieren, dass er den Mindestunterhalt für seine drei Kinder nicht mehr aufbringen konnte, trat unter den gegebenen Umständen hinter dem Interesse der Kinder an der Sicherung ihres Existenzminimums zurück.

Hinweis: Anders kann es sein, wenn der Unterhaltspflichtige seine Erwerbstätigkeit nicht zum Zweck einer Zweitausbildung oder der Weiterbildung in dem erlernten Beruf, sondern zugunsten einer erstmaligen Berufsausbildung aufgegeben hat. Einer solchen Erstausbildung ist regelmäßig auch gegenüber der gesteigerten Unterhaltspflicht der Vorrang einzuräumen. Denn die Erlangung einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf gehört zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen, den dieser grundsätzlich vorrangig befriedigen darf.


Quelle: Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 22.06.2023 - 13 UF 43/21
zum Thema: Familienrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)

Nicht zusammen eingeklagbar: Ansprüche zur Nutzungsentschädigung vor und nach der Scheidung sind getrennt zu behandeln

"Wir lassen uns erstmal scheiden und können danach immer noch die finanziellen Dinge klären" - so häufig diese  entspannt wirkende Vereinbarung auch getroffen wird, ist sie fast nie eine gute Idee. Auch nicht in diesem Fall, der vor dem Oberlandesgericht Hamm (OLG) landete.

"Wir lassen uns erstmal scheiden und können danach immer noch die finanziellen Dinge klären" - so häufig diese  entspannt wirkende Vereinbarung auch getroffen wird, ist sie fast nie eine gute Idee. Auch nicht in diesem Fall, der vor dem Oberlandesgericht Hamm (OLG) landete.

Mann und Frau hatten ein gemeinsames Haus. Die Frau zog aus. Der Mann blieb nach ihrem Auszug im Haus wohnen. Die Ehe wurde schließlich zwei Jahre später geschieden. Dann begehrte die Frau  "Nutzungsentschädigung" - also die halbe Miete für das Haus, rückwirkend seit Trennung und für die Zukunft.

Das jedoch funktioniert aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht. Der Anspruch auf Nutzungsentschädigung bis zur Scheidung ist eine sogenannte "Ehewohnungssache", die nach anderen Verfahrensgrundsätzen beurteilt wird als der Anspruch aus dem Miteigentum nach der Scheidung. Weil das der Erstinstanz nicht aufgefallen war, trennte das OLG nun die beiden Verfahren. Das führte dazu, dass der Mann in dem Verfahren für die Zeit ab Scheidung eine Frist verpasst hatte und dieser Teil der amtsgerichtlichen Entscheidung rechtskräftig wurde.

Hinweis: Die Vorschriften über die Verfahren vor dem Familiengericht lehnen sich teilweise an die  Zivilprozessordnung an - teilweise gibt es eigene Verfahrensvorschriften. Es muss daher immer geprüft werden, ob es sich um eine "Familiensache der freiwilligen Gerichtsbarkeit" oder um eine "Familienstreitsache" handelt. Werden wegen der Nichtbeachtung Fristen versäumt, haftet der Anwalt auch dann, wenn die Erstinstanz den Fehler auch nicht bemerkt hat.


Quelle: OLG Hamm, Beschl. v. 28.06.2023 - 5 UF 78/23
zum Thema: Familienrecht

(aus: Ausgabe 09/2023)